Passend zur Weihnachtszeit möchten wir aus dem Depot unserer historischen Maybach-Sammlung ein Objekt vorstellen, dessen Geschichte auf besondere Weise illustriert, wie eng Menschen und Werke über Zeiten hinweg miteinander verwoben bleiben und auf welch verschlungene Pfade uns die wissenschaftliche Erschließung der musealen Bestände bisweilen führt. Dabei sind es oft Zufallsfunde, die uns auf die richtige Fährte bringen und ein ungeahntes Potential für museales Storytelling entfalten.
So ergab sich kürzlich im Rahmen einer Quellenrecherche ein spannender Treffer: Auf der Suche nach Informationen zur idiomatischen Herkunft des für Wilhelm Maybach (1846 – 1929) bekannten französischen Ehrentitels „Roi des Constructeurs“ fand sich unter den Ergebnissen der Hinweis auf ein gleichnamiges altes Kinderspielzeug aus Frankreich. Es handelt sich um einen undatierten Baukasten mit Vorlagenblättern, der im Spielzeugmuseum Colmar zu besichtigen ist. Aus bunten Bauklötzen konnten verschiedene kleine Bauwerke in historischen Baustilen hergestellt werden.
Bedenkt man nun, dass der elternlose Wilhelm Maybach während seines Heranwachsens im Bruderhaus Reutlingen wohl kaum eigenes technisches Spielzeug besessen haben dürfte, aber dank seiner genialen Begabung und gezielter Förderung später seine berühmten Motoren zur Serienreife bringen konnte, wirkt sein Aufstieg vom mittellosen Waisenkind zum „König der Konstrukteure“ geradezu märchenhaft.
Und hier kommt nun unser Sammlungsobjekt ins Spiel: Der Blick auf das französische Spielzeug erinnerte uns an einen vielteiligen Baukasten aus Holz mit Vorlagenblättern, der dem Freundeskreis Maybach Museum e. V. als Schenkung überlassen wurde:
Gemäß der Überlieferung wurde der Baukasten in den 1930er-1940er Jahren von Werksmeister Max Rau (1902 – 1977) in der Friedrichshafener Maybach-Lehrlingswerkstatt als Geschenk für sein Patenkind Fritz-Peter Rau gefertigt. Hierfür soll ein originaler Matador-Baukasten als Vorlage gedient haben. Ein Vergleich des Baukastens und der kopierten Vorlagenblätter mit erhaltenen historischen Matador-Objekten anderer Sammlungen bestätigt diese Vermutung: Es handelt sich eindeutig um Bauteile und Vorlagen nach dem Prinzip der Baukastenserie „Matador“, die um 1900 von Johann Korbuly in Wien erfunden und aufgrund wachsender Verkaufserfolge ab 1915 in Pfaffstätten bei Traiskirchen fabrikmäßig hergestellt wurden. Ein Vorlagenblatt zeigt den Markennamen sogar auf den Segeln von Schiffsmodellen.
Im Gegensatz zu den einfachen Gebilden aus losen Bauklötzen anderer Hersteller ermöglichten die Inhalte der Baukästen von Matador dank Lochbohrungen und Verbindungsstäben stabile und vergleichsweise anspruchsvolle Konstruktionen aller Art, sodass ab 1920 die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten und Vorlagen sogar in einer eigenen „Matador-Zeitung“ publiziert wurden.
Früh übt sich, wer ein Meister werden will!
Der erzieherische Wert des kindlichen Spiels mit Bauklötzen wurde früh auch von Reformpädagogen wie Friedrich Fröbel (1782 – 1852) und Heinrich Pestalozzi (1746 – 1827) erkannt. Ihre Arbeit legte das Fundament für die weitere Entwicklung von Baukästen, die übrigens ursprünglich nicht nur für Jungen, sondern ausdrücklich auch für Mädchen als sinnvolle Beschäftigung betrachtet wurden. Auf die wissenschaftlichen Autoritäten bezog sich die Werbung für Matador-Baukästen von Anfang an, wie etwa eine Anzeige aus dem Jahr 1914 belegt: „Das Spielzeug ist von großem Einfluss für die Erziehung des Kindes. Ein Spielzeug soll das Kind nicht nur unterhalten, es muß dasselbe auch erziehen und belehren. Dieses Spielzeug ist nach Aussprüchen maßgebender Persönlichkeiten ein der modernen Zeitrichtung angepaßtes Erziehungsmittel im Sinne Fröbels und Pestalozzis. Mit den kleinsten Mitteln baut das Kind seine Umgebung, seine ganze Welt auf. (…) Der mechanische Baukasten ‚Matador‘ schafft Arbeitsfreude, weckt den Erfindungsgeist, regt zur Beobachtung an, lehrt das Wesentliche vom Unwesentlichen trennen, läßt der kindlichen Phantasie freien Spielraum, festigt die Beständigkeit, belohnt die angewandte Mühe durch das endliche Gelingen. Dieses Spielzeug ist ein unversiegbarer Quell herzlichster Freude und innerer Befriedigung.“ (https://murinsel.at/matador/Museum/Preislisten/Matador_Werbeblatt_1914.pdf; Zugriff 25.11.2024)
Überblickt man die Vorlagenblätter, so ergaben sich in der Tat unzählige Möglichkeiten für Kinder, die eigene Geschicklichkeit zu erfahren: Neben Flugzeugen, Schiffen, Maschinen u. v. m. konnte sogar ein kleines Karussell gebaut werden, das große Ähnlichkeit mit unserem „Karussell von Vernon“ aus der vergangenen Ausstellung aufweist – siehe Blog Artikel https://maybach.org/carousel-of-vernon-exhibition/ .
Wie viele Stunden mag nun Meister Max Rau in der Maybach-Lehrlingswerkstatt als Patenonkel verbracht haben, um in liebevoller Handarbeit die vielen Kleinteile und bunten Zahnräder aus Holz herzustellen, um einem Kind in wirtschaftlich schweren Zeiten eine Freude zu bereiten? Wir werden noch viel Recherchearbeit zu leisten haben, um diese und andere Fragen sukzessive beantworten zu können. Dass sich der Aufwand lohnt, steht jedoch fest, denn mit folgendem Verweis schließt sich die kurze kulturgeschichtliche Betrachtung des Baukastens: Gustav Werner (1809 – 1887), der Begründer der Bruderhausdiakonie Reutlingen und wichtige frühe Förderer Wilhelm Maybachs, betrieb bereits ab 1864 vier Kindergärten nach den Fröbel’schen Erziehungsmethoden, und noch heute vertreibt das Haus über seine Werkstätten hochwertige Bausteine in historischer Kontinuität. (https://www.bruderhausdiakonie.de/fileadmin/redaktion/Werkstaetten/06_Produkte_und_Dienstleistungen/02_Produkte_und_Dienstleistungen_fuer_Unternehmen/Holzbearbeitung/Katalog_Holzbausteine_BruderhausDiakonie.pdf; Zugriff 25.11.2024)
Daher ist keineswegs ausgeschlossen, dass Wilhelm Maybach seinerzeit im Bruderhaus auch Baukästen kennenlernte. Unabhängig davon dürfte er als Sohn eines früh verstorbenen Schreiners ohnehin von frühester Kindheit an den versierten Umgang mit Baumaterialien wenigstens ansatzweise erfahren haben. Ob er später als erfolgreicher Konstrukteur seinem Sohn Karl Maybach einen Baukasten schenkte, ist bisher nicht bekannt. Auch welcher Baukasten in der Lehrlingswerkstatt konkret als Modell für die Nachbildung aus der Maybach-Sammlung gedient haben könnte, wird Gegenstand unserer weiteren Nachforschungen sein. Da die Matador-Baukästen jedoch gut dokumentiert und noch immer auf dem Markt erhältlich sind, dürfen wir hinsichtlich der korrekten historischen Einordnung jedenfalls zuversichtlich sein.
Construction kits — The big world in a small format
In keeping with the Holiday season, we would like to present an object from the depot of our historical Maybach collection whose history illustrates in a special way how closely people and works remain interwoven over time and what winding paths the scientific exploration of museum collections sometimes leads us down. It is often chance discoveries that put us on the right track and unleash unexpected potential for museum storytelling.
A recent source research project, for example, yielded an exciting hit: while searching for information on the idiomatic origin of the French honorary title “Roi des Constructeurs” known for Wilhelm Maybach (1846 — 1929), the results included a reference to an old children’s toy of the same name from France. It is an undated building set with pattern sheets, which can be seen in the Colmar Toy Museum. Various small buildings in historical architectural styles could be made from colorful building blocks.
Considering that the parentless Wilhelm Maybach would hardly have had any technical toys of his own while growing up in the Fraternity House in Reutlingen, thanks to his ingenious talent and targeted support he was later able to bring his famous engines to production maturity. His rise from destitute orphan to “King of-constructors” seems almost fairytale-like.
And this is where our collection object comes into play. Looking at the French toy reminded us of a multi-part wooden construction kit with template sheets, which was donated to the Circle of Maybach Museum Friends:
According to tradition, the kit was made in the 1930s-1940s by master craftsman Max Rau (1902 — 1977) in the Friedrichshafen Maybach apprentice workshop as a gift for his godchild Fritz-Peter Rau. An original Matador construction kit is said to have served as a model. A comparison of the kit and the copied template sheets with surviving historical Matador objects from other collections confirms this assumption: these are clearly components and templates based on the “Matador” series of kits, which were invented around 1900 by Johann Korbuly in Vienna and, due to growing sales success, were manufactured in Pfaffstätten near Traiskirchen from 1915. One template sheet even shows the brand name on the sails of model ships.
In contrast to the simple structures made of loose building blocks from other manufacturers, the contents of the Matador construction kits enabled stable and comparatively sophisticated constructions of all kinds thanks to perforated holes and connecting rods, so that from 1920 onwards the diverse application possibilities and templates were even published in a separate “Matador newspaper”.
The educational value of children playing with building blocks was also recognized early on by reform pedagogues such as Friedrich Fröbel (1782 — 1852) and Heinrich Pestalozzi (1746 — 1827). Their work laid the foundation for the further development of building sets, which were originally considered a meaningful activity not only for boys, but also explicitly for girls. The advertising for Matador building sets referred to the scientific authorities from the very beginning, as an advertisement from 1914 shows: “The toy is of great influence on the education of the child. A toy should not only entertain the child, it must also educate and instruct it. According to authoritative personalities, this toy is an educational tool adapted to modern times in the spirit of Fröbel and Pestalozzi. With the smallest means the child builds its environment, its whole world. (…) The mechanical building set ‚Matador‘ creates joy of work, awakens the spirit of invention, stimulates observation, teaches to separate the essential from the non-essential, gives free scope to the child’s imagination, strengthens constancy, rewards the applied effort by the final success. This toy is an inexhaustible source of heartfelt joy and inner satisfaction.” (https://murinsel.at/matador/Museum/Preislisten/Matador_Werbeblatt_1914.pdf; access 11/25/2024)
Looking over the template sheets, there were indeed countless opportunities for children to experience their own skillfulness: In addition to airplanes, ships, machines and much more, it was even possible to build a small carousel, which is very similar to our “Vernon Carousel” from the previous exhibition — see blog article https://maybach.org/carousel-of-vernon-exhibition/.
How many hours might Master Max Rau have spent in the Maybach apprentice workshop as a godfather, lovingly crafting the many small parts and colorful wooden cogwheels to bring joy to a child in difficult economic times? We will still have a lot of research to do to gradually answer these and other questions. However, it is clear that the effort is worthwhile, as the following reference concludes the brief cultural-historical consideration of the building set: Gustav Werner (1809 — 1887), the founder of the Reutlingen Fraternity House and an important early supporter of Wilhelm Maybach, ran four kindergardens from 1864 onwards according to Fröbel’s educational methods, and even today the house sells high-quality building blocks through its workshops in historical continuity. (https://www.bruderhausdiakonie.de/fileadmin/redaktion/Werkstaetten/06_Produkte_und_Dienstleistungen/02_Produkte_und_Dienstleistungen_fuer_Unternehmen/Holzbearbeitung/Katalog_Holzbausteine_BruderhausDiakonie.pdf; access 11/25/2024)
It is therefore by no means impossible that Wilhelm Maybach also became acquainted with construction sets at the Fraternity House. Regardless of this, as the son of a carpenter who died at an early age, he was probably at least to some extent familiar with building materials from an early age. Whether he later gave his son Karl Maybach a construction kit as a successful designer is not yet known. It will also be the subject of our further research to find out which construction kit in the apprentice’s workshop could have served as a model for the replica from the Maybach collection. However, as the Matador kits are well documented and still available on the market, we can be confident that their historical classification will be correct.
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